Die Stressreaktion ist eine der ältesten physiologischen Funktionen des Körpers und entwickelt sich bereits im frühen Embryonalstadium. Diese Fähigkeit zur Stressreaktion gehört zu den erfolgreichsten Errungenschaften der Evolution. Über das vegetative Nervensystem und das endokrine System (Hormone) schafft der Körper bei Gefahrensituationen mit dem Stresszustand die Voraussetzungen für „Fight or Flight“ – Kampf oder Flucht. Kurzfristig wird ein hohes Energiepotenzial bereitgestellt, während normale Körperfunktionen wie Verdauung, Zellreparatur oder Immunabwehr heruntergefahren werden. Ebenso wichtig wie die Aktivierung ist das Abklingen der Stressreaktion, das einer körperlichen Reaktion bedarf. Reflexion oder Gespräche über die auslösende Situation allein, reichen meist nicht aus um das aufgebaute Potenzial abzureagieren.
Aus Reaktionen auf Gefahrensituationen lernen wir unmittelbar. Einmal erlebt, wird zum Beispiel das Zurückweichen vor einem heranrasenden Auto mit der Lernerfahrung „Straßen sind gefährlich“ verknüpft, was uns dazu bringt, uns diesen künftig besser aufmerksam zu nähern. Die akute Reaktion ist weder bewusst noch reflektiert – das wäre in Gefahrensituationen viel zu langwierig. Anschließend wird diese Erfahrung jedoch „gelernt“ und dient unserem evolutionär gesehen relativ neu entwickelten präfrontalen Cortex als Informationsquelle. Dieser für Kreativität und Planung maßgebliche präfrontale Cortex sagt anhand bereits gemachter und gelernter Erfahrungen zukünftige und zu erwartende Situationen und Ereignisse voraus. Dafür benötigt er ausreichende und gute Informationen. Das zigfache erfolgreiche Überqueren von belebten Straßen ist beispielsweise eine ausreichende Quelle, um die erneute Überquerung einer Straße angemessen vorauszusagen und einzuschätzen.
Wenn keine ausreichenden Informationen zur Verfügung stehen, spielt der präfrontale Cortex verschiedene Varianten durch, um eine bestmögliche Voraussage zu treffen. Je weniger Informationen vorhanden sind, desto breiter gestreut und vielfältiger sind die Varianten, die der präfrontale Cortex produziert, um die subjektiv glaubhafteste Vorhersage zu treffen. Es gibt keine Untergrenze oder ein Maß an Informationsmangel, bei dem der präfrontale Cortex in eine Art „Standby“-Modus geht, bis ausreichend Informationen vorhanden sind. Wenn eine Dringlichkeit zur Voraussage beziehungsweise Einschätzung empfunden wird, macht sich der präfrontale Cortex ans Werk. Dies sogar umso massiver, je weniger Informationen vorhanden sind. Dann wird die Informationsbeschaffung selbst Teil des Mechanismus, um Vorhersagen zu generieren.
Es ist jedoch nicht nur die schiere Zahl an Informationen, sondern auch deren Qualität, die eine verlässliche Vorhersage ermöglicht. Im Zeitalter des Internets und der vielfältigsten Vernetzung über digitale Austauschwege ist es daher eher der Überfluss an Informationen, der eine adäquate Vorhersage verhindert. Das Validieren und Einschätzen der Qualität der Informationen selbst wirkt ähnlich wie ein Mangel an Informationen. Dieser Mangel wird dann durch noch mehr Informationen zu kompensieren versucht, um sich in die Lage zu versetzen, die Flut an Informationen richtig einschätzen zu können. Das führt zu einem Fass ohne Boden und hinterlässt einen wild arbeitenden präfrontalen Cortex, der, wie bei bloßem Informationsmangel, Unmengen von Varianten durchspielt, um einen möglichst hohen Grad an subjektiv empfundener Zuverlässigkeit zu erreichen.
Sowohl der Informationsmangel als auch der Informationsüberschuss führen also zu einer Art „Leerlauf“ im präfrontalen Cortex. Weder das eine noch das andere führt dazu, dass eine valide Voraussage gefunden wird, und auch nicht dazu, dass die Suche nach Lösungen und Vorhersagen eingestellt wird. Es gibt keinen „Ausschalter“ für dieses Suchen. Da das ursprüngliche Ziel dieses Suchens das Abwenden von Gefahr war, ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil der Varianten sich mit potenziell gefährlichen Situationen beschäftigt – wie real oder irreal diese auch im Angesicht von Informationsmangel oder Informationsflut sein mögen.
Hier kommt dann wieder unsere evolutionär ältere Stressreaktion ins Spiel. Unserem autonomen Nervensystem ist es egal, ob wir vor einem echten Tiger stehen oder vor einem vorgestellten Tiger – es reagiert in beiden Fällen, indem es unseren „Kampf-oder-Flucht“-Modus aktiviert. Eine Flut an „vorgestellten“ Bedrohungsszenarien aufgrund von Informationsflut oder Informationsmangel, produziert einen stetigen Strom von unterschwelliger oder klar gesehener Gefahr. Und genau hier liegt das Einfallstor für kontinuierlichen Stress, der krank macht und uns destabilisiert.